Nicht-hexen-Tag
(Teil 1)
21. Juli, zunehmender Sichelmond
Es gab Tage, die rochen schon beim Aufstehen nach Zuversicht und unbegrenzten Möglichkeiten. Sie empfingen einen mit offenen Armen, neuen Ideen und frischgepresstem Tatendrang, und versprachen, dass alles, was man wagte, gelingen sollte. Und dann gab es Tage, die begannen mit einem quengeligen kleinen Bruder in der Zimmertür oder Überraschungsperiodenblut in der Unterhose. Diese Tage ermahnten einen zur Vorsicht, verlangten nach extra offenen Augen und Ohren und einer ordentlichen Prise Achtsamkeit, da sie nur in den seltensten Fällen besser wurden.
Carly nannte solche Tage »Nicht-hexen-Tage«, denn was Magie an besonders guten Tagen besser machte, sorgte an NhTs zielsicher für ein Desaster. Diese Theorie hatte sie oft getestet. Eigentlich war Carly eine stolze hoffnungslose Optimistin und als solche wollte sie Tagen, die mit einem verknacksten Fuß oder einem Pickel auf der Nase anfingen, gern besonders viel zutrauen – immerhin lag die Latte sowieso so tief, dass alle Erwartungen nur übertroffen werden konnten. Doch mit dieser Wunschvorstellung hatte Carly mehr als einmal danebengelegen und spätestens der erste April vor vier Jahren hatte sie eines Besseren belehrt. Carly hatte ihre Lektion gelernt und Nicht-hexen-Tage waren zu einer notwendigen Vorsichtsmaßnahme geworden, die sie streng einhielt.
Heute war so ein Tag.
Er hatte sie nach einer kurzen Nacht mit Seife auf der Zahnbürste, einem Loch in ihren Lieblingssocken und einer leeren Cornflakes-Packung begrüßt. Als Carly dann auch noch ihre gelbe Latzhose auf der Kommode im Flur fand, nach wie vor übersäht von Brandlöchern und mit einer vernichtenden Notiz ihrer Großmutter versehen, hätte sie wissen müssen, dass dieser Tag, mit oder ohne Hexerei, schlechte Karten hatte.
»Kannst du Emil im Kindergarten abliefern?« Ole blickte ungeduldig zwischen seiner Schwester und seiner Armbanduhr hin und her. »Ich weiß, es war gestern spät bei dir, aber Papa ist schon weg und ich muss auch los. Lou wartet.«
»N klr«, nuschelte Carly durch zusammengebissene Zähne, zwischen denen sie eine Haarklammer festhielt, und nickte kurz.
»Danke!« Ole war verschwunden, ehe Carly weitere Nachfragen stellen konnte. Keine zehn Sekunden später hörte sie, wie die Haustür ins Schloss fiel.
»Emil!« Ohne noch einmal in den Spiegel zu sehen, band Carly ihr braunes Haar zu einem Knoten und steckte die Klammer, mit der sie einige der widerspenstigen Strähnen feststecken wollte, unverrichteter Dinge in ihre Hosentasche. Schnell tippte sie eine Nachricht an Ben, damit er nicht auf sie wartete, dann machte sie sich auf die Suche nach ihrem kleinen Bruder. Sie fand ihn mit einer großen Schüssel Cornflakes – ihren Cornflakes, wie sie empört feststellte – über ein Buch mit Dinosauriern gebeugt. Gerade erzählte ihm die Stimme aus dem orangefarbenen Stift, den er auf die aufgeschlagene Seite drückte, Fakten über seinen aktuellen Lieblingsdino, den Triceratops.
Wie immer dauerte es eine halbe Ewigkeit, den Fünfjährigen davon zu überzeugen, seine Zähne zu putzen, den Schlafanzug gegen Shorts und T-Shirt auszutauschen, und das Haus ohne eine Lastwagenladung an Spielsachen zu verlassen. Als Carly die Tür endlich hinter sich zuzog, war es bereits viertel vor acht und damit glasklar, dass sie zu spät zum Unterricht kommen würde. Sie hatten das Gartentor noch nicht erreicht, als der Himmel seine Schleusen öffnete. Der Schauer dauerte maximal eine halbe Minute, aber er schaffte es, Carly und Emil bis auf die Haut durchzuweichen.
»Schei…benkäse!« Sie zog ihren Bruder zurück unter das Vordach und ging in die Hocke. »Okay, Emil.« Sie sah ihn verschwörerisch an. »Das hier bleibt unser kleines Geheimnis, ja?«
Er nickte und beobachtete aus großen rehbraunen Augen, wie Carly ihre Hände auf sein patschnasses Shirt legte.
Die Warnungen des Morgens waren vergessen. Mit geschlossenen Lidern murmelte sie die Worte, die ihr zuerst in den Sinn kamen. »Erde und Wasser, Feuer und Wind, nimm was du brachtest, himmlisches Kind.«
Sie musste die Formel einige Male wiederholen, ehe sie beide trocken waren. Ein Frühlings- oder Wasserzauber hätte aufgrund der Mondphase vermutlich schneller gewirkt, doch der einzige Trockenzauber, den Carly kannte, war dieser allgemeingehaltene Sonnenzauber. Einer der wenigen Tageszeitenzauber, die sie regelmäßig gebrauchte.
Mit einem weiteren Blick auf die Uhr entschied sie sich, das Fahrrad zu nehmen und Emil auf den Gepäckträger zu verfrachten. Wo war sein Helm? Hatte sie seine Tasche dabei? Argh! Warum dauert mit einem kleinen Bruder immer alles so lange? Und war da nicht etwas, woran sie hätte denken müssen?
Ein Prickeln wanderte über ihre Kopfhaut. Doch am Himmel schoben Sonnenstrahlen die Wolken beiseite und brachten einen Gedanken mit, der sich warm um Carlys Herz legte. Wer hatte eigentlich entschieden, dass aus jedem unschönen Morgen gleich ein Nicht-hexen-Tag werden musste? Wer sagte, dass heute keine Ausnahme war?
***
Um einen erfolgreichen Zauber zu generieren, richtet sich die moderne Hexe nach den acht Phasen des Mondes, die als Mondzyklus bezeichnet werden. Ein Mondzyklus beginnt mit dem Neumond und endet mit dem letzten Tag des abnehmenden Sichelmondes. Unterschiedliche Zauber wirken verstärkt zu unterschiedlichen Phasen. Grundlegend gilt aber zu beachten: Neumond und zunehmender Sichelmond stehen im Zeichen von Neuanfang, zunehmender Halbmond und zunehmender Dreiviertelmond kennzeichnen die Phase des Wachstums, Vollmond und abnehmender Dreiviertelmond entsprechen dem Höhepunkt, abnehmender Halbmond und abnehmender Sichelmond sind die Phasen des Beendens.
Auszug aus Magische Mondtheorie – Mondphasenbasiswissen für die moderne Hexe von Lucinda Hausmann et al., 7. Auflage im Auftrag der Hexenkommission, Thale, 1961
***
Kunst oder Kokolores
(einen Monat zuvor)
20. Juni, zunehmender Sichelmond
»Handlesen? Das ist ja noch ungenauer als die Glaskugel, Carly. Nein, darin werde ich euch sicher nicht unterrichten.« Tante Pia schüttelte tadelnd den Kopf. »Erst recht nicht, wenn ich so frische Kamille auftreiben konnte. Also wirklich. Statt Zeit mit solchem Unsinn zu verplempern, solltest du lieber deine Kräuterkenntnisse verbessern. Vielleicht wäre das da«, sie deutete auf den schleimigen grünen Klumpen in Carlys Kessel, »dann nicht passiert.«
Missmutig folgte Carly dem Blick ihrer Tante. Was ursprünglich eine Erkältungssalbe hatte werden sollen, sah nun selbst wie etwas aus, das auf direktem Weg aus einer Rotznase gekommen sein könnte. Argh! Es war frustrierend. Carly befreite eines der Gänseblümchen, die sie in die Ösen ihrer Chucks gesteckt hatte, und drehte es gedankenverloren zwischen Daumen und Zeigefinger. Wenn man in diesem verflixten Keller wenigstens die Sonne sehen könnte.
Doch der Raum, in dem sie jede Woche zwei ihrer Nachmittage verbrachte, hatte nur ein einziges schmales Fensterband, das keinerlei Zweck erfüllte. Darunter befanden sich ein Waschbecken, ein Pult samt schlichtem Holzstuhl und eine Tafel. Diese hatte Tante Pia mit der Anleitung für den Erkältungstrank beschriftet, den Carly und Seraphine heute zubereiten sollten. Die restlichen Wände waren mit deckenhohen Schränken und Regalen verkleidet, die bis oben hin mit frischen und getrockneten Zaubertrankzutaten, gläsernen und steinernen Schalen, Mörsern, Reagenzgläsern, Körben, Messing-, Kupfer- und gusseisernen Kesseln sowie Büchern, Rezepten und Kerzen befüllt waren. In der Mitte des Raums standen zwei zueinander versetzte, längliche Tische, die Carly an die Arbeitstische aus dem Chemieunterricht erinnerten.
Ihr Blick schweifte hinüber zum vorderen der beiden Plätze, an dem ihre anderthalb Jahre ältere Cousine damit beschäftigt war, eine glasklare Flüssigkeit in ihren Kessel zu gießen und darunter ein schwebendes Hexenfeuer zu entfachen. Gespannt beobachtete Carly, wie bronzefarbene Flammen zwischen Seraphines Fingern tanzten, ehe sie sie aus ihrem Griff entließ und sich wieder dem Trank in ihrem Kessel widmete. Carly wunderte sich jedes Mal aufs Neue über die Farben von Hexenfeuer. Denn während die Flammen ihrer Cousine in rotbraunen Tönen flackerten, war ihr eigenes Feuer strahlend blau – und wie Carly fand, so viel schöner.
»Carlotta, leg das weg!« Die Stimme ihrer Tante riss sie aus ihren Gedanken.
Schnell steckte sie die Blume zurück in ihren Schuh und wandte sich erneut an Pia. »Meinst du nicht, die Kunst der Chiromantie könnte eine sinnvolle Ergänzung zur klassischen Lehre sein?«
»Kunst? Bei der Göttin, Carlotta. Lebensläufe in Handflächen zu erraten, ist weniger Kunst und viel mehr Kokolores, wenn du mich fragst. Reine Zeitverschwendung. Genauso gut kannst du dich Sigillen widmen. Nein. Wer etwas zu Gesundheit und Glück beitragen will, sollte Kräuterkunde studieren und Zauberformeln üben. Magie erfordert Disziplin. Darüber, wie du deine Zeit verschwendest, kannst du nachdenken, wenn du unsere herkömmlichen Lehren verstanden hast und umzusetzen vermagst.« Sie rümpfte die Nase. »Und das wird wohl noch eine ganze Weile dauern.«
Dem hatte Carly nichts entgegenzusetzen. Während Seraphines Kessel einen blumigen Duft von Kamillenblüte mit einer sanften Salbeinote und einem Hauch Vanille im Raum verströmte, roch ihr Werk nach angesengter Windel. Schlimmer noch: Ohne Vorwarnung entwickelte die zähe Masse ein Eigenleben. Unheilverkündend bäumte sie sich auf, zischte und gab mit einem Plop das letzte bisschen Luft und einen daumengroßen Glibberwurm frei, der zielsicher auf Tante Pias Brille landete.
»Ups.« Mit einer Handbewegung drosselte Carly die blauen Flammen des Hexenfeuers, das sie zu Beginn der Stunde entfacht hatte. Vermutlich hätte es nicht annähernd so lange brennen sollen.
»Ja, ups.«
(...)
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Covergestaltung Milli & Logo: Tala Jacob | www.tala-jacob.de
Covergestaltung Carly: Sabine Pöstinger | www.inspiritedbooks.at
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